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Kindeswohlgefährdung – Bewertung virtuell trainieren

27. 10. 2025
Verfasst von: Julius Schöning, Christof Radewagen, Jan-David Liebe

Kindeswohlgefährdung – Bewertung virtuell trainieren

Ein Mann mit VR-Brille gestikuliert mit seinen Händen in der Luft. Zwei Frauen beobachten ihn. Eine hält einen Laptop im Arm, die andere sitzt an einem Bildschirm. © Hochschule Osnabrück
Wann liegt eine reelle Gefährdung des Kindeswohls vor? Virtuelle Trainings-Szenarien helfen dabei, Fachkräfte und Studierende für die Arbeit im Kinderschutz aus- und weiterzubilden.

Die Fälle von Kindeswohlgefährdung haben in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Den Jugendämtern stehen zur Beurteilung jedoch meist zu wenig Zeit und Fachpersonal zur Verfügung. Ein interdisziplinäres Forschungsteam der Hochschule Osnabrück untersucht, wie KI-basierte Trainingssysteme die Qualität der Gefährdungseinschätzungen optimieren und zu einem verbesserten Schutz von Kindern und Jugendlichen beitragen können. Das Team erstellt mithilfe virtueller Realität praxisnahe Trainingsszenarien.

Personal auf reale Kinderschutzfälle vorbereiten

Deutschlandweit stieg die Zahl der Gefährdungseinschätzungen für Kinder und Jugendliche von 2013 bis 2023 um mehr als 80 Prozent. Liegen gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vor, sind Fachkräfte des Jugendamtes und Mitarbeitende freier Jugendhilfeträger verpflichtet, das individuelle Gefährdungsrisiko eines Minderjährigen einzuschätzen und bei Bedarf Schutzmaßnahmen einzuleiten. Die Bewertung dieser hoch sensiblen Fälle erfordert erhebliche Sorgfalt, Zeit und umfassendes Kinderschutzwissen – Ressourcen, die Jugendämtern oft nur begrenzt zur Verfügung stehen.

Virtuelle Szenarien simulieren einen Hausbesuch

Hier setzt das Forschungsprojekt AId4Children (Hilfe für Kinder) der Hochschule Osnabrück an, das im Programm zukunft.niedersachsen gefördert wird. In Kooperation mit Praxispartnern untersucht das Projekt, wie sich künstliche Intelligenz (KI) und virtuelle Realität (VR) einsetzen lassen, um Fachkräfte und Studierende auf die Bearbeitung realer Kinderschutzfälle vorzubereiten. Das Forschungsteam erstellt hierzu realistische virtuelle Trainingswelten. „Die Szenarien simulieren einen Hausbesuch bei einem Kind und seinen Eltern. Hier gab es Hinweise auf eine Kindeswohlgefährdung, die es zu überprüfen gilt“, skizziert Prof. Dr. Christof Radewagen das Vorgehen. Die Szenarien basieren auf synthetischen Fallakten, die eine KI aus Merkmalen tatsächlicher anonymisierter Fallakten zusammensetzt.

Das VR-Training erzeugt gezielt Gefährdungslagen in den virtuellen Räumen und die Nutzenden können – ähnlich wie Piloten in einem Flugsimulator – die Einschätzung des Gefährdungsrisikos trainieren. „Hat ein Kind beispielsweise blaue Flecken, ist das allein nicht sehr auffällig“, beschreibt Christof Radewagen eine Szene. „Kinder verletzen sich auch beim Spielen. Aber wenn die blauen Flecken in einem Körperbereich liegen, in dem sich ein Kind nicht unbedingt verletzt, zum Beispiel auf dem Rücken, dann muss man hellhörig werden und nachhaken, wie das passiert ist.“ Ein Ziel für die Trainierenden besteht darin, bestimmte Merkmale genauer wahrzunehmen, die auf eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls hinweisen. Ob sie eine Gefährdungslage folgerichtig angenommen oder ausgeschlossen haben, wird anschließend bewertet.

Technologien ermöglichen individuelles Training

Die dafür notwendigen synthetischen Fallakten erstellt ein Large Language Model (LLM) auf dem High-Performance Computing Cluster der Hochschule, das mit anonymisierten Fallakten trainiert wurde. Mittels eines weiteren künstlichen neuronalen Netzwerks werden die aus dem LLM erzeugten Kinderschutz-Einzelfälle in eine virtuelle Umgebung überführt. Die Fachkräfte und Studierenden tauchen dann mithilfe immersiver Simulationen in die realitätsnahen Szenarien ein. Eine Game Engine erzeugt die Trainingsszenarien in der KI-generierten Umgebung, mit individualisierbaren Parametern passt sie das Training an die Fähigkeiten der Nutzenden an.

Gruppenfoto des Projektteams – fünf Personen stehen vor einer weißen Wand und gucken in die Kamera. © Hochschule Osnabrück
Das interdisziplinäre Projektteam AId4Children befasst sich mit Kinderschutz, Ethik und KI: Michael Rau (von links), Jan-David Liebe, Christof Radewagen, Julius Schöning und Jan-Oliver Kutza.

Ethische Aspekte und Akzeptanz erforschen

Derzeit wird die KI-basierte Simulation der Wohnumgebung fertiggestellt. Danach werden die Charaktere von Kind, Eltern und Geschwistern gestaltet. „Die Simulation der Charaktere ermöglicht Interaktionen, welche gut durchdacht sein sollten und ein Regelwerk für die KI erfordern“, erläutert Prof. Dr. Julius Schöning. „Langfristig dienen diese VR-Trainings dazu, KI-basierte Entscheidungssysteme risikofrei zu erforschen.“ Das Projekt schafft mit den VR-Trainingsszenarien eine Forschungsumgebung, in der ethische Aspekte, Fragen der Akzeptanz und der Wirksamkeit sicher erprobt werden können.

„Wir sind optimistisch, dass AId4Children einen wertvollen Beitrag dazu leisten wird, den Kinderschutz weiterzuentwickeln“, sagt Prof. Dr. Jan-David Liebe. Die Präsentation einer ersten prototypischen VR-Umgebung am 3. Tag der Sozialen Arbeit in Osnabrück stieß bei den Teilnehmenden bereits auf positive Resonanz. Das verdeutlicht den großen Bedarf an innovativen Ausbildungsansätzen für einen verbesserten Kinderschutz.

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Redaktioneller Hinweis: Dieser Text steht unter der CC BY-NC 4.0 DE-Lizenz.

Zitation: Schöning, J., Radewagen, C., & Liebe, J.-D. (2025). Kindeswohlgefährdung – Bewertung virtuell trainieren. Wissen Hoch N. https://doi.org/10.60479/2DJ6-CN19
Prof. Dr. Julius Schöning
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Hochschule Osnabrück
Fakultät Ingenieurwissenschaften und Informatik
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Prof. Dr. Christof Radewagen
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